Joachim Witt ist und bleibt produktiv. Nach dem Album „Neumond“, das erst im April 2014 erschien, gefolgt von einer ausgiebigen Tour, präsentiert Joachim Witt nun bereits im August dieses Jahres das Album „ICH“. Sind die Vorgänger-Releases „Neumond“ und „DOM“, die beide die Top 10 der Deutschen Charts erreichten, noch in enger Zusammenarbeit mit Produzententeams wie Martin Engler (Mono Inc.) und Mirko Schaffer (Die Ärzte) entstanden, so zeigt sich Joachim Witt auf dem neuen Werk „ICH“ komplett alleinverantwortlich für Songwriting und Produktion.
Für den Künstler Joachim Witt war es wichtig zu sehen, was ohne die Einflüsse von Produzenten aus seiner ganz eigenen Kraft und Energie entstehen kann. Und so bietet das neue Album „ICH“ genau den Sound, den sich die Fans wünschen: experimentelle Klänge treffen auf Pop, Gitarren auf Elektronik – und über allem thront der markante Gesang von Joachim Witt.
„Ein Album für alte Seelen!“, so könnte man beim Hören der neuen Kompositionen denken, und dass mit „ICH“ sicherlich auch die vielfältigsten Erwartungen verbunden sind.
Die „Neumond“-Freunde wollten wieder ähnliches, die „Bayreuth“-Liebhaber den Neuen-Deutschen-Härte-Witt und alle anderen vielleicht irgendetwas dazwischen. Und was ist es geworden? Nichts von alledem – und trotzdem von jedem das Beste! Man muss ein reflektierender und erfahrener Mensch sein, um diesem Album nicht einfach nur folgen zu können, sondern mit ihm in Resonanz zu gehen und sich schließlich in vielen Songs nicht nur wiederzufinden, sondern regelrecht aufgehoben zu fühlen. Es ist ein kritisches Album. Das an sich ist schon ein Geschenk in der deutschsprachigen Musikszene. Doch es ist nicht allein gesellschaftskritisch, jedenfalls nicht zuerst. Nein, es ist menschen-, haltungs-, seelenkritisch. Und es ist wahr und aufrecht – so wie der Sänger selbst. Vielleicht wirkt der Witt, den man in den Melodien und Texten wiederfindet, manchmal etwas windgebeugt und knorrig, aber immer ungebrochen. Witt zeigt sich in diesem Album abgeklärt, aber in keiner Sekunde ohne die Bereitschaft zum Widerstand.
Joachim Witt hat dem Publikum ein Album voller Weisheit geschenkt. Doch es ist zur großen Freude seiner Hörer nicht die Klugheit literarischer Scholastik, die intellektuelle Sängerköpfe oft selbstverliebt hervorbringen. Nein, hier musste kein Text kopflastig gedichtet werden, hier wird alles aus dem Erfahrungsbrunnen der lebenssatten Wahrhaftigkeit gezogen, melodisch ummantelt und dann als scharfer Pfeil in Kopf und Herz der Hörer geschossen. Das schmerzt mitunter, doch zugleich heilt es auch. Joachim Witt ist hier kein Ankläger, kein Provokateur, kein Rebell. Er ist ICH, Witt. Er öffnet sich, sehr tief, und lässt dadurch die gleichermaßen tiefe Öffnung seiner Hörer zu. Das ist beinahe schon musikalische Katharsis. So gut ist dieses Album, tatsächlich. Auf jeden Fall zu jenen, die viele Dinge über sich wissen.
Wer bereits Narben von all seinen Kämpfen hat, wird die Schmerzhaftigkeit der Erkenntnisse, die dieses Album bereithält, zu schätzen wissen. Witt kann stechen; mit sezierender Intensität dringen dann die musikalischen Nadeln bis dorthin vor, wo sich Leid verhärtet hat. Und dann setzt, unerwartet manchmal, Heilung ein. Witt legt die Hände auf, und dort, wo der Hörer die Berührung zulässt, wird klar: du bist nicht allein mit deinem Schmerz und deinem Zorn, mit deinen Enttäuschungen und deinem Leid. Du trägst auch immer Hoffnung in dir. Verzweifle nicht, alles hat einen Sinn. So banal das für einen jungen Menschen klingen mag, so sehr wird der reife Hörer dieses seltene musikalische Geschenk zu schätzen wissen.
Es ist kein Album für alte Menschen. Sondern eines für alte Seelen.
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Quelle: Oblivion/SPV