Mr. Lee? Wer ist dieser Mr. Lee? Der schweigsame Reisende, der sich vor den Seelen der Geschundenen im S21, dem Folterkerker, verneigt, den die barfüßigen Kinder in den Slums von Phnom Penh lieben, weil er ihnen ihre Postkarten oder Zigaretten abkauft, wer ist der stille Europäer, den sie „der weiße Elefant“ nennen? Reinhard Mey wahrt sein Geheimnis, aber er legt musikalische Kieselsteine für die Fährtenleser aus, sie werden Mr. Lee finden.
Diese Spurensuche zieht sich wie ein Leitmotiv durch das neue Album. Es ist sein 27. Studio-Album, fast genau 50 Jahre nach „Ich wollte wie Orpheus singen“ entstanden. Die alte Begeisterung ist zu spüren, mehr denn je, sie hat sich von Album zu Album gesteigert, diese Lust zu erzählen, das Leben in all seinen Facetten zu leben, zu beobachten und es dann in liebevollen Miniaturen und großflächigen Bildern festzuhalten. Sein Liedermacherhandwerk hat er von Grund auf gelernt und in den Jahrzehnten zur absoluten Perfektion gebracht. Ein Sprach- und Tonkünstler, der einst vermochte, das Wort „Luftaufsichtsbaracke“ zum Klingen zu bringen, hat heute erst recht keine Mühe, Wortungetüme wie „Müttergenesungswerk“ im Lied Hörst du, wie die Gläser klingen als reine Poesie leuchten zu lassen. So erzählt er einmal mehr mit treffsicherem Ausdruck und in fein ziselierten Worten und Zeilen seine ganz persönliche Geschichte. Aber wenn er sie erzählt, ist es, als erzähle er die unsere, wir teilen seine Erlebnisse und finden uns in seinen Liedern wieder.
Mit 15 Liedern ist das Album erfüllt von diesen verblüffenden Augenblicken des Erkennens: Ja, das ist genau meine Geschichte, das ist mir genau so widerfahren, das ist mein Leben, von dem er da singt! Wir kennen auch dieses Gefühl der späten Reue gegenüber dem alten Lehrer Dr. Brand, den Kummer um das Wissen, einem Menschen Unrecht getan zu haben, ohne die Chance, das Unrecht wieder gut zu machen. Wir haben auch schon die Erkenntnis gehabt, dass nach all den Dingen, die uns misslungen sind, nach all den Abenteuern, die um ein Haar übel ausgegangen wären, wir allen Grund zur Bescheidenheit haben und besser dankbar die Geschenke unseres Lebens zählen sollten als unser Versagen und unsere Kümmernisse, Wenn’s Wackersten auf dich regnet. Wir kennen sie doch auch nur zu gut, diese Drei-Uhr-Dämonen, die sich in den dunklen Nächten unseres Daseins an unser Bett stellen, von denen er Im Haus am Meer singt.
Da erwachen Im Goldenen Hahn, dem Gallo d’Oro, all die Dramen im blinden Venezianischen Spiegel an der Wand noch einmal, da ist der Blick in die Vergangenheit, in die Zukunft, der Blick auf die Offenbarung und die Zeichen des Fährmanns Charon über die dunklen Wasser des Styx. Da ist die skurrile Odyssee des verwirrten Herrn Bölke, den Herr Fellmann, Bonsai und ich vor der Katastrophe bewahren. Da erklingt in Lucky Laschinski eine Liebeserklärung an alle Katzen, Hunde und Menschen und in Heimweh nach Berlin eine an „Friedrichshain mit seinen idyllischen Partywinkeln, wo dir die Partygänger nachts gern in den Hausflur pinkeln“.
Zusätzlich zu den Liedern aus seiner Feder hat sich Reinhard Mey zwei Bonus Tracks gewünscht, Zeit zu leben, eine Hommage an seinen Freund Klaus Hoffmann und Lavender’s Blue, ein Wiegenlied aus dem England des 17. Jahrhunderts. In beiden Liedern begleitet ihn sein Tochter Victoria-Luise.
So viele Sommer ist das schwerelose Auftaktlied des Albums, und es endet mit der nachdenklichen Frage, wie viele Sommer mag es noch geben … und wie viele Lieder? Es ist gut, dass wir die Antwort darauf nicht kennen. Hier kommen mit Mr. Lee 15 Lieder für helle und dunkle Tage.
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Quelle: Universal/Electrola | Promotion Werft