Die Winter auf Langeoog sind trist. Im Inselkino läuft »Easy Rider« und im Zuschauerraum sitzt Karl Buskohl, ein Schüler des nahe gelegenen Internats. Wir schreiben das Jahr 1969, und Karl sieht, wie Wyatt alias Peter Fonda seine Uhr auszieht und in den Staub wirft, bevor er mit seinem Kumpel Billy auf den Highway einbiegt und sie auf ihren Bikes Richtung New Orleans losbrausen… Er hört – neben vielen anderen Klassikern aus diesem Kultfilm – die Robbie-Robertson-Komposition ”The Weight“, ein Song, der ihn tief bewegt und nie wieder loslässt.
48 Jahre später – Karl Buskohl hat sich längst in Carl Carlton verwandelt – findet man eine kongeniale Adaption dieses berühmten The Band-Titels auf Carltons lange erwarteter Doppel-CD »Woodstock & Wonderland Live«, Nachlese zu den umjubelten Konzerttourneen »Spirit Of Woodstock“ sowie »Songs & Stories – Spirit Of Wonderland«. Diese Live-Auftritte lockten 2015/2016 Fans von Kiel bis Kitzbühel in Clubs und Hallen und veranlasste Musikkritiker zu Beifallsstürmen. »Die Lebensgeschichte spielt mit«, titelte die Nürnberger Zeitung. »Heldenplatz» überschrieb Andrian Kreye von der Süddeutschen seinen Erlebnisbericht darüber, wie er sich als Amateursaxofonist im Münchner »Freiheiz« zu den Profis auf die Bühne gesellte und einen denkwürdigen Abend erlebte.
Carl Carlton muss man längst nicht mehr vorstellen. Der »Mann, der mit seinen 1,98 ostfriesischen Metern einen piratenhaften Archetyp des Rockgitarristen verkörpert, der das Rebellentum von Woodstock mit einem Ruck aus dem Handgelenk schleudern kann« (SZ), ist längst Deutschlands bekanntester Gitarrist, Rockmusiker, Produzent, Singer/Songwriter und »Sidekick«. Mehr noch: Carltons Netzwerk verzweigt sich bis tief nach England und Amerika. Zuerst wechselt der junge Künstler von Friesland nach Holland, spielt »Gitaar« bei der Arnheimer Rock’n’Roll-Band Long Tall Ernie & The Shakers und später auch bei dem Enfant terrible der NL-Szene, Herman Brood. Nachdem er sich in England und Amerika bei Manfred Mann, Eric Burdon, Joe Cocker oder Willy DeVille als Gitarrist verdient gemacht hat, wird er Anfang der Achtziger auch wieder in Deutschland aktiv. Zuerst beim Paniker Udo Lindenberg, in der Folge für alle, die hierzulande amtlich rocken: Maffay, Niedecken, Westernhagen. Besonders wichtig für Carlton wird das Zusammentreffen und die Arbeit mit Robert Palmer und Levon Helm. Mit Erstgenanntem verbindet ihn nicht nur eine tiefe Freundschaft, mit ihm schreibt und produziert er auch, u.a. das Grammy nominierte Blues-Album »Drive«. Palmer gibt auch den Anstoß zu Carltons Solokarriere. Levon Helm, legendärer The Band-Schlagzeuger, ist bis zu seinem Tod für Carl ein väterlicher Freund und ein kreatives Leuchtfeuer. Wenn man so will, nimmt in Helms mythenumrankter Studio-Scheune The Barn in Upstate New York die »Woodstock«-Konzertreihe Gestalt an und aus den einzelnen musikalischen Puzzlesteinen erwächst eine kohärente Biografie, der Lebensverlauf von Carlton in Form von Songs & Stories.
Die nun vorliegende Live-Doppel-CD versammelt 17 Titel, darunter Eigenmaterial vom 2014er Album »Lights Out In Wonderland«: ”Moonlight In New York«, »Little Men In The Radio«, und »Invincible« und die persönliche Best Of von Carlton aus den all den Jahren on the road und auf der Bühne. Dazu zählen Warren Zevons »Mutineer«, Springsteens »Atlantic City«, der Willie-Dixon-Howlin’-Wolf-Blues ”Little Red Rooster«, die schwermütige Ronnie-Lane-Eric-Clapton-Komposition
»Annie« oder »Cissy Strut«, ein Signature-Song der Funk-Pioniere The Meters, »Sailin’ Shoes« von den ewig unterbewerteten Little Feat oder Dylans Jahrhundert-Song »The Times They Are A-Changin’«. Das zeugt von exquisitem Geschmack, aber wie, fragt man sich, passt das alles zusammen? Rock, Blues, Funk, Folk, Bluegrass?? Es passt, weil Carlton und seine Mitspieler nicht nur ihr Handwerk perfekt (!) beherrschen, sondern weil sie all diese Songs klug interpretieren – als Teile einer Geschichte, eines Kosmos, den man Rock’n’Roll nennt. Man höre – und staune – wie Carlton mit dem Flaschenhals die Akkorde bei »Little Red Rooster» verschleift, wie Pascal Kravetz die Orgel schwer atmen oder stottern lässt, wie er am Piano brilliert und wie Bassist Yoyo Röhm und Schlagwerker Wayne P. Sheehy für all die solistischen Ausflüge eine rhythmische Grundlage schaffen. Auf die von Carl so sympathisch erzählten Geschichten hat man verzichtet. Was live geht, würde »auf Platte« den Rahmen sprengen. Dafür lässt man sich Zeit, die Songs zu entwickeln, auszuspielen, auszudeuten – so z.B. bei dem titelgebenden Joni-Mitchell-Stück »Woodstock«, das zum Auftakt gut zehn Minuten läuft und nicht ein Sekunde zu lang ist. Da kommt nämlich genau das Feeling auf, das die Konzerte so magisch gemacht hat. Es ist, als sitze man in Levon Helms Scheune und werde Zeuge, wie solche Meisterwerke entstehen. Das rockt, das atmet, das faucht und funkelt, das ist echt live!
Kurz vor dem Ende des üppigen Konzert-Mitschnittes servieren Carlton & Co. ein ganz besonderes Schmuckstück, ”Toast To Freedom”, 2011 zum 50-jährigen Geburtstag von Amnesty International von Larry Campbell (Bob Dylan) und Carl geschrieben und mit einer vielköpfigen All-Star-Band (Kris Kristofferson, Carly Simon, Donald Fagen, Taj Mahal…) eingespielt. Hier entwickelt der Song bis zum gospelartigen Finish seine ganze Strahlkraft und sinnstiftende Power. »Zugabe-Zugabe«-Rufe… und die gibt es dann zum Ausklang mit »Good To Be Alive«, einem getragenen Showstopper mit wunderbaren Chören, perligen Pianoläufen und einem wie immer brillanten Carl Carlton.
Wer nach dieser Reise durch die Rock-Geschichte Lust auf mehr bekommen hat, sollte sich die aktuellen Konzertdaten im Kalender rot anstreichen. Im März geht es nämlich wieder los, diesmal unter dem Motto »From Tobacco Road To Graceland«. Der Rock-Archäologe Carlton wird das Wurzelwerk der modernen Popmusik freilegen und dank einer klugen Song-Auswahl die Geschichte von der Tobacco Road bis Graceland hörbar machen. Mit bestuhlter Beschaulichkeit hat das nichts zu tun. Klar – leise Töne, folkhafte Einfachheit, Lagerfeuer-Stimmung und Spaß bei den geilen Geschichten, die Carlton von seinen Begegnungen mit den Größen der Rockwelt zu erzählen weiß, aber auch jede Menge Rock-Wucht, Druck und Dampf.
Dafür sorgen nicht zuletzt die beiden »Neuen« im Line-up: »Bass-Gott« Wyzard, bürgerlich Jerry Seay, Mitbegründer der legendären Funk-Rock-Band Mothers Finest sowie Drummer Dion Murdock, bekannt durch seine Zusammenarbeit mit eben dieser Band. Last but not least steht natürlich auch Pascal Kravetz auf der Besetzungsliste, Keyboarder extraordinaire, musikalischer Allrounder, Begleiter von Peter Maffay, Udo Lindenberg, Robert Palmer, Bruce Springsteen, Jimmy Barnes und Carls langjähriger Freund.
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Quelle: Staages/Cargo | Promoteam Schmitt & Rauch