ALBUM | Haim „Something to tell you“ | ab heute

Sommer 2012: Plötzlich lief „Forever“ überall. Ein Wahnsinnssong, in dessen Video Jungs auf schweren Motorräder unter der kalifornischen Sonne Kreise auf den Asphalt malten, während die Mädchen im Wohnzimmer von der Liebe erzählten. Pop, der gleichzeitig die richtigen Referenzpunkte antriggerte und hochmodern war. Vor allem aber: eine Melodie, die im Ohr blieb. Der Song kapitulierte die bis dahin völlig unbekannten Haim aus dem von Vater Moti mit Musikinstrumenten und allerhand Equipment vollgepackten elterlichen Wohnzimmer in Los Angeles, das übrigens noch immer die Homebase der Band ist, auf die „Sound Of 2013“-Liste der BBC, das weltweit wichtigste Trendbarometer im Pop-Business. Aus dem Familienbetrieb war über Nacht einer der vielversprechendsten Acts Amerikas geworden. Ein Jahr später folgte mit „Days Are Gone“ das Debütalbum, das smart sein ganz eigenes Revier absteckte und Este, Danielle und Alana Haim als wandlungsfähige Künstlerinnen zeigte. Sie spielten Popmusik, die oft an die Großen der 70er- und 80er-Jahre erinnerte; an Fleetwood Mac, an Madonna, an die Bangles – aber destillierten aus alldem einen ganz eigenen, sofort wiedererkennbaren und sehr gegenwärtig produzierten Sound. Das Album erntete euphorische Kritiken, verkaufte über eine Million Exemplare, schoss in Großbritannien sofort an die Spitze der Hitparaden und landete weltweit in den Jahresbestenlisten der Musikpresse. Taylor Swift wurde vom Fan zur Freundin, auch Jay-Z fand warme Worte. Eines Tages fanden sich Haim sogar in der Villa von Stevie Nicks wieder. Die Fleetwood-Mac-Legende nahm sich drei Stunden Zeit für ein Gespräch mit den Schwestern, am Ende standen die vier Damen gemeinsam am Flügel und sangen „Rhiannon“. Ein Mitschnitt dieses Auftritts geistert durch das Internet, wer ernsthaft am Talent der Band zweifelt, sollte ihn sich anhören, danach wird er nie wieder etwas sagen.

Wie geht man mit so einem Riesenerfolg um? Und was zieht man daraus für kreative Schlüsse? Haim hätten für die Aufnahmen ihrer zweiten Platte den einfachen Weg wählen können. Sie hätten so weitermachen können wie bisher. Zunächst einmal haben sie das sogar getan: Die Songwriting-Sessions für dieses Album nahmen ihre Anfänge in oben erwähntem Wohnzimmer. Aber das ist eine lediglich formale Ähnlichkeit, denn die Erfahrungen mit dem Debütalbum, die drei Jahre auf Tour und nicht zuletzt, dass Haim erwachsen geworden sind, haben durchaus ihre Spuren hinterlassen. Die drei Schwestern erweitern ihren Stil, variieren ihren Rhythmus – ohne dabei jene Alleinstellungsmerkmale aus den Augen zu verlieren, die sie sich über die letzten vier Jahre erarbeitet haben. Und so ist „Something To Tell You“ ein Pop-Album geworden, das keine Sekunde lang mit Hits geizt, gleichzeitig aber über unglaublich viele Nuancen verfügt. Das bedeutet: Man kann die Platte im Autoradio pumpen, und dann knallen die Songs so rein, dass man sofort das Fenster runterkurbelt. Dann wird aus dem verregneten Sommer in München sofort bestes Texas-Wetter und aus dem Ruhrschnellweg der Sunset Boulevard. Ach, selbst die Fahrt zum Finanzamt wird zu einem Baggersee-Ausflug.

Es lohnt sich aber auch, genauer hinzuhören. Zu schauen, was in den Songs so passiert. Zusammen mit Ariel Rechtshaid, der auch schon die Produktion des Debüts verantwortete, setzen Haim ihre Songs auf Fundamente, die Nachhaltigkeit sicherstellen. Sie spielen mit den Vocals, mit den Rhythmen, mit den Sounds. Da treffen im luftig synkopierten „ReadyForYou“ 90er-Jahre-R’n’B-Patterns auf Vokalsätze, die sich einiges vom Gospel holen, muss man beim Bass sowohl an New Jack Swing als auch an durchaus kontemporäre Bassmusik denken. Da erinnern die knackigen Fast-Countryrock-Gitarren und perlenden Synthies in „Nothing’sWrong“ zunächst an das Formatradio der 80er-Jahre, bevor ein Schnitt den Song doch recht unerwartet in die Gegenwart herüberbeamt. Und das abschließende „Night So Long“ ist ein Soul-Klagegesang über die Ambivalenz der Einsamkeit, der sich aus dem Nebel erhebt, kristalline, sparsam gesetzte Gitarrentöne aus der Ferne immer näher holt, mit Kirchenmusik ebenso spielt wie mit Ambient.

An anderer Stelle hingegen lohnt ein Blick auf das Personal: Beim unwiderstehlichen Ohrwurm „You Never Knew“ schrieb Dev Hynes mit, besser bekannt als Blood Orange und einer der smartesten Songwriter der Gegenwart. Die wuchtigen Geigen und Violas auf „FoundIt In Silence“ stammen von Owen Pallett (ArcadeFire, Final Fantasy). Bei der Produktion und beim Songwriting einer Reihe von Songs arbeiteten Haim mit Rostam Batmanglij zusammen, einst Mitglied bei den Pop-Zauberern Vampire Weekend.

Den Synthie auf „Little Of Your Love“ bediente Roger Joseph Manning Jr., der mit Jellyfish Anfang der 90er-Jahre Powerpop-Geschichte schrieb. Dass er hier gastiert, ist nur ein Puzzleteil von vielen in einem Song, an dem alles stimmt. Einerseits eine klassische Haim-Nummer: hochmelodiöser Pop, dem man seine Herkunft aus Kalifornien in jeder Sekunde anhört. Sonnenmusik mit Vokalharmonien, die so schön perlen wie eine frisch geöffnete Dose Cola an einem heißen Nachmittag in einer Strandbar in Santa Monica, mit kecken E-Gitarren und einem Beat, dem man sich nur schwer widersetzen kann. Die Art von Musik, bei der das Augenmerk auf dem tatsächlichen Song liegt und nicht auf irgendwelchen Mätzchen. Wahrscheinlich deshalb muss man bei „Little Of Your Love“ an die goldene Ära des Radios denken, an die 70er-Jahre und an Fleetwood Mac, an den AOR-Rock der Eighties, aber auch an großartige Neunziger-Jahre-Bands wie Wilson Phillips. Danielle, Este und Alana Haim destillieren aus all diesen Einflüssen einen ganz eigenen Sound, den sie mit heruntergepitchtenVocal-Samples dezent, aber treffsicher in der Gegenwart verankern.

Vergangenes wahr- und aufnehmen. Kontemporär klingen, aber nie darauf aus sein, den Zeitgeist zu bedienen. Ein enormes Wissen über Popmusik als Basis zu benutzen, aber daraus Musik zu entwickeln, die vollkommen eigen ist. Es gibt wohl keine Band im kontemporären Pop-Zirkus, die das besser kann als Haim. „Something To Tell You“ tritt die Beweisführung in elf Kapiteln an. Wir freuen uns auf den Sommer mit diesen Damen.

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Quelle: Universal Music