Ein Leben, das allzu geradlinig verläuft, taugt nicht für gute Geschichten. Darum dürfen wir uns wohl glücklich schätzen, dass bei Vivie Ann eigentlich immer alles drunter und drüber geht. „When The Harbour Becomes The Sea“ heißt die Essenz, die sie aus dem Chaos ihres Lebens destilliert hat. Es geht darin genau um diese turbulenten Momente – wenn der sichere Hafen zur stürmischen See wird, der feste Boden unter den Füßen zu tobenden Wellen und endloser Tiefe.
Von solchen Momenten hat Vivie Ann mit ihren 27 Jahren schon viel zu viele erlebt. Die Tochter zweier Musiker kennt das bewegte Künstlerleben von klein auf. Als Kind schlief sie Backstage im Keyboard-Case ihres Vaters, während die Eltern auf der Bühne standen. Schnell galt auch sie als Ausnahmetalent und im Musikzirkus standen ihr alle Türen offen. Doch es kam anders. Nach dem Abitur wurde Vivie immer wieder von sogenannten transitorisch ischämischen Attacken heimgesucht. Dabei handelt es sich um Durchblutungsstörungen im Gehirn, die mit migräneartigen Kopfschmerzen beginnen und unbehandelt innerhalb kurzer Zeit zum Schlaganfall führen. Inzwischen scheint die Krankheit überwunden, doch es ist Vivie sehr wohl bewusst, dass sie in dieser Zeit dem Tod mehrmals nur mit Glück entronnen ist.
Wie so oft schärfte die Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit den Fokus auf das Wesentliche. Vivie Ann entschied, von nun an nur noch das zu machen, wofür sie wirklich brennt. Keine Kompromisse mehr, um sich dem Musikmarkt anzupassen. Sondern nur noch ihre eigene Vision von kunstfertiger Popmusik, persönlichen und ehrlichen englischen Texten und detailverliebten Arrangements. Dass dieser Weg zwar aufrichtiger, aber auch steiniger ist, musste die Wahl-Hamburgerin bald lernen. Doch sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, gründete ihr eigenes Label, sammelte Geld via Crowdfunding und scharte eine ganze Riege an Mitstreitern, Musikern und Produzenten um sich. Auch ihr zweites Album erscheint so als Werk einer unabhängigen Selfmade Künstlerin, die vom Songwriting über die Produktion bis hin zum Coverdesign alle Fäden selbst in der Hand hält.
Das Ergebnis klingt erstaunlich reif und erwachsen, aber dennoch auch wild und ungeschliffen.
Der Opener „Cold Water“ erzählt von genau so einem oben erwähnten „When The Harbour…“ Moment. Nach der melancholischen Strophe bricht der Refrain mit unerwarteter Euphorie hervor. „I´d do it all again, I´d do it all again“ singt der Chor und dieses Motto zieht sich weiter durch das Album. Auch in „Obsolete Majesty“, „Anytime“ und „Glow“ erzählt Vivie kleine Dramen aus ihrem verworrenen Leben – jedoch immer mit einer selbstbewussten Attitüde. Als hätte sie sich auf die Fahne geschrieben, ja zu sagen zu all dem Chaos, den kleinen und großen Kapriolen des Schicksals, der manchmal schmerzhaften Überemotionalität. So pendelt das Album zwischen leisen, intimen Momenten und wilden, explosiven Ausbrüchen, manchmal sogar innerhalb des selben Songs („Windmills“). Dass Vivie eine große Stimme hat, zeigt sie spätestens in „Loverboy“, einem Song der durchaus auch als Bewerbung für den nächsten Bond-Song aufgefasst werden könnte. Auf dem abschließenden „No End“ mündet schließlich alles in einem großen E-Gitarren Chaos. Aber Chaos ist für Vivie ja die beste Inspiration.
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Quelle: Believe Music