Es gibt Alben, bei denen spürt man sofort, dass jeder einzelne Ton, jede Note, jede Silbe, ja selbst jede noch so kleine Pause bedeutungsvoll und jedes Detail emotional aufgeladen ist: III, das neueste Werk von The Lumineers, das am 13. September 2019 bei Dualtone erscheint, fällt ganz klar in diese Kategorie. Dabei machen die beiden Songwriter Wesley Schultz und Jeremiah Fraites im Verlauf immer wieder deutlich, dass ein Arrangement keineswegs überfrachtet oder besonders dicht klingen muss, damit ein Song unter die Haut geht. Im Gegenteil.
Für die Arbeit am neuen Album holten Schultz und Fraites auch ihren Kollegen Simone Felice wieder an ihre Seite; darüber hinaus war auch die Geigerin Lauren Jacobson wieder mit von der Partie. Felice hatte das zuletzt veröffentlichte Album Cleopatra, das 2016 die Spitze der US-Charts inklusive Platinauszeichnung (und hierzulande die Top-20) erobert hatte, produziert; Jacobson war auf jedem ihrer Alben zu hören, sie spielt schon seit 2011 mit der Band. Neuerdings ist die Geigerin auch festes Mitglied ihrer Live-Band, zu der aktuell auch Stelth Ulvang (Klavier), Byron Isaacs (Bass, Hintergrundgesang) und Multiinstrumentalist Brandon Miller zählen. (Die Cellistin und Sängerin Neyla Pekarek verließ die Gruppe im Jahr 2018 und widmet sich seither ihrer Solokarriere.)
Der schlichte Titel III verweist nicht nur darauf, dass es sich um das dritte Album von The Lumineers handelt. Die Wahl sei auch deshalb auf diesen Titel gefallen, weil es insgesamt neun Songs sind, die sie in drei Kapitel unterteilt haben, wobei jedes Kapitel einem von drei Protagonisten gewidmet ist. (Neben besagten neun Stücken finden sich noch ein Instrumental-Song sowie drei Bonustitel auf dem Album, die jedoch nicht Teil des zu einer kohärenten Narration verbundenen Kernalbums sind.) Die drei Kapitel bilden außerdem den Rahmen für eine ineinandergreifende Serie von Videos zu den neun Stücken, die allesamt unter der Regie von Kevin Phillips entstanden sind. (Phillips ist unter anderem bekannt für seinen Film Super Dark Times aus dem Jahr 2017, der bei Netflix zu sehen ist.)
Der Erzählbogen von III ist dermaßen straff und stringent, dass man meinen könnte, das gesamte Konzept basiere auf einem im Vorfeld gefassten Plan – was jedoch keineswegs so war. Im Gegenteil ergaben sich das Gesamtbild und die Geschichte „wie von selbst“, nachdem zunächst scheinbar unzusammenhängende Elemente im Raum gestanden hatten, die dann aber zusammen ein unglaublich kohärentes Ganzes ergeben sollten.
Eines dieser Elemente war dabei schon etwas vergilbt: Es waren u.a. Notizen, die sich Schultz schon vor über 10 Jahren in seinem Tagebuch gemacht hatte. Inhaltlich ging es da um eine enge Verwandte, der er dabei helfen wollte, endlich von ihrer Alkoholabhängigkeit loszukommen, eine ziemlich schreckliche Erfahrung. Auch wichtig: seine Erinnerungen an einen komplett absurden Termin für ein Familienfoto bei Sears, als er noch richtig klein war. Ein weiterer Baustein war ein Song, den ein befreundeter Filmemacher in Auftrag gegeben, hinterher aber doch nicht genommen hatte; dieser wiederum basierte zum Teil auf einer eindringlichen Klavierpassage, die Fraites schon Jahre zuvor „geschrieben“ hatte – in Anführungszeichen deshalb, weil er damals genau genommen noch gar nicht so wirklich wusste, wie man eigentlich Klavier spielt. Alles Dinge also, die schon da waren, die man sich so nicht ausdenken kann, die sich aber bestens dazu eignen, sie in einem musikalisch umwerfenden, psychologisch komplexen Gesamtkunstwerk zu integrieren. „Aller guten Dinge sind drei“ heißt es nicht umsonst: Für die beiden Songwriter war die Arbeit an Album III tatsächlich ein Volltreffer – in vielerlei Hinsicht.
„Die Idee mit den Kapiteln kam uns zum ersten Mal im Jahr 2007“, erzählt Schultz. „Ich hab von damals noch meine Notizen, in denen ich von drei EPs rede, die zusammengehören: Jede davon hat ein eigenes Thema, aber gemeinsam ergeben sie ein Ganzes, ein Album. Sogar einen Titel hatten wir damals: Love, Loss and Crimes sollte diese EP-Serie heißen“. Nur kam es nie dazu: „Der Titel war da, aber die Songs fehlten noch. Auch für das neue Album stand daher Love, Loss and Crimes als Titelkandidat im Raum. Er klingt auch ganz gut, aber letztlich haben wir uns dann doch für die römische Zahl III entschieden.“
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Die in Denver lebenden Musiker, die gebürtig aus New Jersey stammen, fügten die ersten Puzzleteile ihres dritten Albums in den Catskills zusammen – jenem Mittelgebirge im Nordosten der USA, wo Simone Felice lebt und arbeitet. Der erste Schlüssel, der ihnen viele weitere Türen öffnete, war der Track „Jimmy Sparks“: Ein Song, dessen Schilderung von einer entfremdeten Vaterfigur und dessen Sohn so anschaulich und niederschmetternd ist wie eine Kurzgeschichte von Raymond Carver oder David Foster Wallace.
„‘Jimmy Sparks’ hat uns auf einen Kurs gebracht, der so eigentlich gar nicht geplant war“, gesteht Schultz. „Ich hatte eine Strophe nach der anderen dafür geschrieben, aber das alles passte einfach nicht zusammen. Die Geschichte war gut und interessant, aber sie brauchte noch eine richtige Hook. Wir suchten also nach einer Wendung, die das Ganze leichter verdaulich für die Zuhörer machen sollte, damit sie nicht bloß eine Strophe nach der anderen erwartet. Die Felice Brothers verpacken ihre Geschichten in ihren Songs echt gut, und als Simone dann zum ersten Mal ‘Jimmy Sparks’ hörte, sagte er nur: ‘Der wird zu 100% auf dem Album landen, und hier ist meine Idee, wie wir es anstellen.’ Ab da entwickelte sich die Arbeit zu diesem großen Puzzle, bei dem ein paar klar definierte Charaktere eine Rolle spielten. Als wir dann einen Schritt zurück gingen und erkannten, dass ich ja schon weitere Themen und Figuren hatte, wurde mir klar, dass wir ja eine eigene Welt erschaffen konnten, in der diese Figuren existieren. Wir wollten eine größere Geschichte daraus machen: Ein richtiges Familienporträt.“
Gemeinsam mit Fraites, dessen Klavierspiel eine entscheidende Rolle zukommt, da seine Parts immer wieder die Schönheit und auch die Dramatik untermauern, feilte Schultz weiter an den verschiedenen Charakteren aus den einzelnen Songs und konzentrierte sich auf die Zusammenhänge und Querverbindungen: So entstand ein richtiger Stammbaum, der drei Generationen umfasst. Da wäre die Großmutter Gloria Sparks. Ihr Sohn: Jimmy Sparks. Und dann ihr Enkel – Junior Sparks. Jeder von ihnen ist Protagonist eines Kapitels, das wiederum aus drei Songs besteht. Die anderen beiden tauchen dabei jeweils am Rande auf, während wir entlang der Zeitachse eine Generation nach der anderen präsentiert bekommen.
„Wenn man sich zusammensetzt und Ideen austauscht, brainstormt“, holt Fraites aus, „dann wird aus deiner eigenen guten Idee eine richtig umwerfende Idee, indem du sie mit der guten Idee des anderen zusammenbringst. Und nachdem Wes und ich nun schon seit 14 Jahren zusammenarbeiten, geht das bei uns heute einfach sehr viel schneller als früher – die Ideen kommen echt wie von selbst.“
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Eröffnungstitel des Albums (und zugleich des ersten Kapitels) ist „Donna“: Anhand eines langen Detailkatalogs wird uns Gloria Sparks vorgestellt, wobei sich die Erzählperspektive mit jeder Zeile verändert: „It’s not the words you say but how you say it“, singt Schultz zur Klaviermelodie von Fraites, einer Art Wiegenlied. „I saved a picture where your hair was braided/They found your wallet in the cemetery/You told your daughter she was ordinary.“
Auf dem darauffolgenden „Life In The City“ ist es die Tochter Donna, die sich einen antrinkt und am Silvesterabend in Manhattan ordentlich die Puppen tanzen lässt – weshalb die Musik auch gleich intensiver klingt. Das mitreißende Arrangement von „Gloria“, zugleich erste Single des Albums, steht daraufhin im Kontrast zur düsteren Beschreibung von Donnas Mutter, die immer tiefer in die Alkoholabhängigkeit reinrutscht.
Zum Auftakt von Kapitel 2, mit dem Stück „It Wasn’t Easy To Be Happy For You“, landen wir bei Junior, dessen Ex ihm gerade das Herz gebrochen hat und nun mit einem anderen Typen zusammen ist. Im Verlauf von „Leader Of The Landslide“ ist Junior der Beobachter, der seinen Vater Jimmy abstürzen sieht, nachdem dessen Frau Bonnie auch ihn verlassen hat – jetzt trinkt auch Jimmy immer häufiger, verbringt immer mehr Zeit mit Glücksspiel. Auf „Left For Denver“ zieht seine Mutter dann nach Westen und gründet dort eine neue Familie – woraufhin Junior selbst zum Problemfall wird: Er rebelliert, sucht andauernd Ärger.
Zum Beginn des dritten Kapitels sitzt Jimmy alleine in seinem Trailer, lebt dort wie in einer Zelle – „My Cell“: Allein mit seinen Problemen, ist er von primitiv gemalten Landschaften umgeben, Bildern, die dort hängen, wo eigentlich die Fenster seines Wohnwagens sein sollten. Album-Höhepunkt „Jimmy Sparks“ umspannt daraufhin zwei Jahrzehnte: Gefängniswärter Jimmy schnallt zunächst den fiebernden Kleinen an, den seine Ex ihm dagelassen hat – dann geht’s los zur Spielhölle. Später sieht Junior, inzwischen ein junger Mann, seinen Vater am Straßenrand barfuß durch den Schnee taumeln – und fährt einfach vorbei an diesem erbärmlichen Überbleibsel des Mannes, der mal sein Vater war, an jenem Rest dieser endgültig ruinierten Familie. „It was 3 AM“, drei Uhr in der Früh war es, so die wiederholten Worte von Schultz dazu.
Das Klavier-Instrumentalstück „April“, mit dem es nach dem dritten Kapitel weitergeht, lässt einen kurz durchatmen, bis das neue Album mit „Salt And The Sea“ ausklingt: Schultz bearbeitet seine Akustikgitarre so, als ob sein Leben davon abhängen würde, während er seinen ganzen Kummer zusammenfasst, seine Reue artikuliert, seinen tiefen Wunsch nach Besserung. In der Mitte des Songs gesellt sich Fraites’ kristallklares Klaviermelodie dazu, ein Verweis auf die Schönheit eines Lebens, das so jedoch nie im Bereich des Möglichen lag, während Schultz sich dem Kern der Sache widmet: „I’ll be your friend in the daylight again“, singt er, und weiter: „There we will be, like an old enemy/Like the salt and the sea.“
„Und diese Klavierpassage war überhaupt die erste Melodie, die ich mir selbst ausgedacht habe“, erinnert sich Fraites. „Damals wusste ich echt noch sehr wenig von dem Instrument, also probierte ich einfach irgendwelche Tonfolgen aus. Aber genau diese Idee wiederzufinden und sie im letzten Song des neuen Albums unterzubringen – für mich echt einer der besseren Songs, den wir jemals geschrieben haben –, das war ganz klar so ein ‘Oh-wow-Moment’ für mich. Als ob diese Ideen wirklich nur darauf gewartet hätten, nach über 10 Jahren auf diesem Album zu landen.“
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„Ist schon lustig, wie das Leben so spielt“, sagt auch Schultz über den langen, verschlungenen Reifeprozess, den ein Stück wie „Salt And The Sea“ durchmachen musste. „Wir spielten gerade im Vorprogramm von U2, als wir M. Night Shyamalan im Backstage-Bereich kennenlernten und uns sofort mit ihm anfreundeten. Als er dann an Glass arbeitete, trat er an uns heran und sagte: ‘Ich brauche noch einen Song für den Abspann.’ Dann erzählte er uns vom Inhalt des Films, und darauf basierend gingen wir also ganz anders als sonst an die Sache heran und komponierten das, woraus nun ‘Salt And The Sea’ geworden ist. Die Akkordfolge erinnert fast schon an James Bond, und überhaupt ist da diese Spannung. Eigentlich war ja auch gar nicht geplant, den Song aufs Album zu packen, aber nachdem wir ihn geschrieben hatten, sagte ich direkt zu Jer: ‘Mann, hoffentlich dürfen wir den auch draufpacken!’ Wir fanden ihn einfach super. Das Schicksal wollte es dann, dass er sich so oder so mit einer Absage bei uns meldete, weil der Song einfach nicht so gut zum Rest des Films passte. Für uns war das ein Glücksfall. Und entscheidend ist, dass wir nur durch ihn und seine Filmidee in diese klangliche Richtung gegangen sind – obwohl ich finde, dass die Energie von ‘Salt And The Sea’ sehr gut zu der von ‘My Cell’ und ‘Jimmy Sparks’ passt. Damit bekommt der letzte Abschnitt des Albums diesen düsteren Touch.“
Dabei haben die Fans Elemente wie Dunkelheit und Düsternis bislang eher nicht mit dem Namen The Lumineers verbunden: „Wenn die Leute (den Crossover-Hit des Jahres 2012) ‘Ho Hey’ hören, ist das natürlich ein ganz anderer, ein zuversichtlicher, sonniger Track“, sagt Fraites. „Aber das ist auch okay, schließlich wollten wir damals genau so klingen. Es war Minimalismus, weil wir dieses Gefühl und diesen Sound einfangen wollten – genau den Vibe halt.“ Nur sind seither sieben Jahre vergangen, und im Leben der Songwriting-Partner ist sehr viel passiert. Erst 2018 wurden beide nahezu zeitgleich zum ersten Mal Vater; beide bekamen mit nur zwei Monaten Abstand Söhne.
Für Schultz gehen der Reifeprozess als Künstler und der als Mensch so oder so Hand in Hand: „Ich lese gerade die Harry-Potter-Bücher, wobei die Bücher von Rowlings mit jedem Band etwas finsterer werden – und ich glaube, Bücher altern und entwickeln sich letztlich genau wie Menschen. Klingt lustig, aber im Grunde genommen ist es genau das, worauf wir abzielen“, holt er aus. „Wir haben angefangen mit Dingen, die eher leicht und unbeschwert wirkten, auch wenn man schon auf unseren frühesten Aufnahmen düstere Themen finden kann, wenn man etwas genauer hinschaut. Wir klangen auf jeden Fall ausgelassener. Und jetzt erlauben wir es uns, ein wenig düsterer zu klingen, was immer noch funktioniert und auch einfach glaubwürdig ist – was man nicht unterschätzen darf: Schließlich will man nicht diejenige Band sein, die voll bemüht rüberkommt und andauernd irgendetwas sein will, was sie nicht ist. Aber meine Lieblingsbands – zum Beispiel die Beatles, die Stones zur Zeit von Exile on Main St., der Dylan von Blood on the Tracks – haben mich schon immer dahingehend beeinflusst, nur war mir das gar nicht bewusst. Einen Song wie ‘Gloria’ hätten wir auch auf den anderen Alben unterbringen können, das hätte auch irgendwie gepasst, was man aber von ‘My Cell’ und ‘Salt And The Sea’ nicht sagen kann. Besonders ‘Jimmy Sparks’ hätte vorher absolut nicht gepasst. So von wegen: Was ist das denn bitte?! Die große Herausforderung bestand also darin, einen Rahmen zu finden, in den diese eher düsteren Songs passen.“
„Also grundsätzlich geht es Wes und mir beim Schreiben vor allem darum, dass der jeweilige Song gut ist“, stellt Fraites abschließend klar. „Die Musik kommt also immer an erster Stelle. Diese Ansammlung von Songs funktioniert nun obendrein auch noch wunderbar zusammen, weshalb ich sagen würde, dass wir dieses Mal echt ins Schwarze getroffen haben.“
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Quelle: Universal Music