„Anagnorisis“ – Die plötzliche Offenbarung eines Charakters: Diesen Moment beschreibt der literarische Begriff, den der griechische Philosoph Aristoteles prägte. Der Moment, in dem das wahre Gesicht eines Menschen sich zeigt und die Geschichte eine unvorhersehbare Wendung nimmt.
Asaf Avidan war 10 Jahre lang nonstop auf Tour. Es war dringend an der Zeit, eine Pause einzulegen. Er hatte genug von der ständigen Rastlosigkeit, von sterilen Hotelzimmern, anonymen Flughäfen und versifften Backstageräumen der Konzerthallen. Er brauchte Ruhe und Abgeschiedenheit, um über sein Leben, seine Karriere und seine Kunst nachzudenken. Außerdem klopfte laut sein 40. Geburtstag an die Tür. Ein Jahr Pause sollte es sein. Er wollte auf eine neue Art leben und Songs schreiben.
Den Ort, den er dafür wählte, war ein altes Bauernhaus in Italien, umgewandelt in ein Aufnahmestudio, eher noch: in eine Art Rückzugsoase für Musiker. Asaf fand dort weite grüne Felder, pittoreske Olivenhaine und endlos blauen Himmel.
Offensichtlich auf der Suche nach sich selbst, fand er zunächst jedoch keinen Zugang. Je mehr er dachte, endlich Fortschritte zu machen, desto tiefer versinkt er in einem Strudel aus Ratlosigkeit. Wer will er sein? Der „One Day“-Guy, der er für viele durch den Wankelmut Remix seines „Reckoning Songs“ war, trifft es nicht wirklich. Seine eigenen Songs haben zu viel Kraft und zu viele Fans, dass ihm das allein nicht gerecht werden würde.
Sein neues Heim leitet auch einen neuen Prozess des Songwritings ein. Während frühere Alben wie „Different Pulses“ oder „The Reckoning“ innerhalb weniger Wochen geschrieben wurden, ändert sich jetzt schlagartig etwas. Es scheint, als ob die Gegenwart der Natur und die Stille um ihn herum in seine Kunst eindringen. Die Dinge beginnen langsamer heran zu reifen. Sie werden angefasst, niedergelegt, weggeworfen und komplett neu gedacht. Monate vergehen und die neuen Songs wachsen sehr langsam.
“I remember learning to cut olive branches to prepare the trees for next year. I was astonished to see how much of the tree had to be cut in order to help it live better. Local farmers showed me that by cutting many of the branches, more air was reaching the inside of the tree, more sun, making it stronger and more resilient to parasites and disease. I tried to do the same with my songs. Cut, trim and remove big parts for the song to use its energy to grow stronger roots and a stronger structure. Take time and let the song grow naturally.”
Die Lieder auf Anagnorisis sind wie die Wurzeln der Bäume eines Waldes miteinander verbunden. Sie kommunizieren untereinander, senden Signale und nutzen die gleichen Klang- und Schallstrukturen.
Müde von den immer gleichen musikalischen Helden, sucht Asaf nach neuen Inspirationen, um sein entstehendes Werk wachsen zu lassen. Er beschäftigt sich mit 90er Jahre Hip-Hop, Charts-Pop und Gospelmusik.
“I was listening to Thom Yorke, The Fugees, David Bowie, Old school Jazz, even contemporary pop like Billie Eilish or Kanye West. I would take something from each one and mix it all into a schizophrenic jungle of characters, all working from within myself. Somehow this mixture of characters and sounds was able to tell a clearer picture of how I felt… of who I am… more than just one voice ever could.”
Asaf entscheidet sich dazu, dass alle Stimmen, die auf dem Album vorkommen, nur von ihm beigesteuert werden. Main Vocals, er. Backing Vocals, er. Harmonien und Gegenmelodien, er. Ein ganzer Gospelchor, knurrende Männer – es stammt alles von ihm. Dutzende von Stimmen werden immer wieder aufgenommen, um es so klingen zu lassen, als ob ganz viele Menschen singen würden. Vom schrillen Falsettgesang über theatralischen Bariton bis hin zu Asafs androgyner Aussprache: Mit den verschiedenen Gesangstechniken und den dadurch ausgelösten Emotionen, möchte er auf die Vielfältigkeit des menschlichen Seins aufmerksam machen.
Um all das unter einen Hut zu bringen, ruft Asaf seinen alten Produzenten- und Musikerfreund Tamir Muskat (Produzent von „Different Pulses“ und „Gold Shadow“) an.
“I wanted to go back to that small room in Tel Aviv and make the album in the same way we recorded ‚Different Pulses‘. Just the two of us, alone, building the songs layer by layer and brick by brick. Slowly watching the songs form from the inside out. It’s a slow and Sisyphean process, but it fit the feeling of the album.”
Asaf fliegt nach Tel Aviv um Tamir zu treffen. Dort beginnen sie gemeinsam die Arbeit am neuen Album – doch dann kommt die Corona-Krise und nichts ist mehr so, wie es einmal war. Es gibt Ein-und Ausreisestopps und sie müssen die Aufnahmen unterbrechen. Asaf geht zurück nach Italien. Tamir bleibt in Tel Aviv.
Anstatt aber alles hinzuwerfen, haben sie sich schnell mit der neuen Situation arrangiert. Anders als erwartet, funktioniert diese Art Songs zu schreiben und aufzunehmen, ziemlich gut. Sie kommt Asaf sogar ziemlich gelegen.
“I would record vocals or a guitar riff and send it over to Tamir for processing. He would send it back and I’d give comments. We would listen to something together and would then take separate hours to work on things, and virtually “meet up” again. Instead of having studio hours I could start, stop, take a break, continue, do things for hours, again and again, wake up in the middle of the night and record. It was amazing.”
Der pulsierende Lärm von Tel Aviv und die ruhige Stille des italienischen Landlebens bringen den zusätzlichen Clash, der auf das Thema des Albums einspielt.
“While the artist always seeks truth, Art is always a lie. It tries to impose a structure upon what inherently has a chaotic nature. This chaos, this ever-evolving nebula of feelings and thoughts and instances… all working together, all existing simultaneously… that’s life.”
Im Song „900 Days“ zieht Asaf Bilanz. Er möchte das Ende seiner letzten Beziehung verarbeiten. Er fühlt sich weniger von seiner Partnerin betrogen, sondern viel mehr noch von der Liebe, und irgendwie auch von sich selbst. Alle Vorstellungen, die er jemals von der Liebe hatte, scheinen keine Gültigkeit mehr zu haben und er muss sich komplett neu sortieren, um wieder vorwärts schauen zu können.
Nicht nur der adoptierte Wolfshund, der Asaf gefährlich verletzt, spielt eine große Rolle in seinem kreativen Reflexionsprozess. Einige Monate nach diesem Vorfall taucht ein Rudel Wölfe in der norditalienischen Region auf, in der Asaf zu diesem Zeitpunkt lebt. Von einem Feld in der Nähe seines Studios jagt dieses Wolfsrudel Asafs geliebtes Pferd Ariadne an den Rand einer Klippe. Dort stürzt Ariadne ins Meer – Asaf sucht stundenlang nach ihr, aber sebst der Leichnam des Tieres wird nie gefunden. Noch am gleichen Tag notiert Asaf die Worte „Lost Horse“ auf einem Stück Papier. Daraus entsteht eine schmerzvolle Erzählung von Verlust und der Ohnmacht, die entsteht, wenn einem bewusst wird, dass das Leben aus Abschied und Endlichkeit besteht.
In „Rock of Lazarus“ singt Asaf um sein Herz, das wie Lazarus von den Toten aufersteht. Jedoch ist es müde und wütend, um die vielen Leben und Tode, die es bereits erleben musste. Es ist eine Art Zombie-Herz. Drei verschiedene Stimmen, die die unterschiedlichen Phasen der Mutation des Herzes besingen, tragen das Lied.
Asafs Botschaft und die wahre Anagnorisis des Albums ist die facettenreiche, oft undurchsichtige menschliche Existenz. Wie abebbende und zunehmende Gezeiten, ist menschliches Verhalten oft verwirrend und unberechenbar.
“The revelation is that there is never just one moment of clarity that represents more truth than any other.”
„Moving, mutating… every time I grabbed it and penciled it down, it would already change and turn into something else. Still… regardless of the impossibility… I felt the need to try to portray this landscape. This is “Anagnorisis”.“
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Quelle: Embassy of Music