„König:in“. Ein Album. 13 Songs. Lieder wie Begegnungen. Sie führen zueinander. Sie stehen zusammen und füreinander ein. Sie sind intensiv und tiefgehend, ausgelassen und übergeschnappt, resolut und ernst. Manchmal schauen sie ganz genau hin, legen die Finger tief in die Wunden unseres selbstgeschaffenen Wahnsinns. Im nächsten Moment sind sie nur Augenaufschläge zweier Fremder, deren Blicke sich zufällig im Vorübergehen treffen. Von wegen: Ist doch nur Wasser, wenn ein Fremder weint! Das Mitgefühl beginnt da, wo der flüchtige Blick im Auge des anderen zur Spiegelung der eigenen Seele wird. „König:in“ ist Pop. Yeah Yeah Yeah. Pop ist AnNa R. Lupenrein. Nutzt überhaupt nichts, etwas anderes zu behaupten.
Viel Zeit ging drauf, bis „König:in“ Gestalt annahm. Grob betrachtet fast dreieinhalb Jahrzehnte. Langeweile kam nie auf. Mit Rosenstolz gings los. Zum Start vor 30 Queens und Kings. Weniger als zwei Dekaden und 12 Studioeinspielungen später wollten pro Stadt oft mehr als 30.000 alles wissen. Aus Liebe. Nachdem vieles gesagt war, entstand Platz für Neues. Auf Gleis 8 fuhren AnNa R., Manne Uhlig, Timo Dorsch und der nunmehr verstorbene Musiker-Freund Lorenz Allacher als frischformierte Band Vierer Gleichberechtigter ein. Zwei Top 10-Alben und gute acht Jahre lang gabs Gleis 8. Und immer wieder One-Nite-Bühnen-Stands mit Silly.
Und jetzt: „König:in“. Eine runde Sache außen wie innen. Rundungen, Frauenformen. „König:in“ ist eine ausgesprochen weibliche Platte geworden. Die Dietrich und die Knef kommen vor, zwei Heldinnen des Wahrhaftigen, zwei sensible Stachelhaarige. Die Elbe, die Spree, Zeuginnen eines Landes, das gespalten war. Gestern. Heute wird wieder gespalten. Parolen stehen hoch im Kurs, so gruselig wie hirnverbrannt. Gegen die Nächstenliebe, Anti-Miteinander. Volksbesoffen werden alle anderen zu Verrätern erklärt. Schönmusikalisch, aber wirklich nur beinahe pop-leicht sagt AnNa R.: „Das ist nicht Meins“. Warum sollen Grenzen geschützt werden? Welche denn? Wer hat die gezeichnet? Fuck ‚em! Ein klares Statement mit herrlich an die Hand nehmender, tänzelnder Musik. Besser gehts nicht. Oder doch?
Gleich darauf folgt „Ein Meer voller Seelen“. Das Piano-Motiv flirtet mit der Form der Moritat. Die Stimme der „König:in“ wird schwer und ernst. Sie singt vom Kampf ums Überleben, der die Seelen im Boot raus trieb aufs Meer. Der schwere Mut, weiterzuhören. Es braucht Kraft der täglich lauernden Lethargie, der eigenen Ignoranz zu trotzen. Das Sterben im Meer muss aufhören. Jetzt. Sofort. Unsere fettgefressenen Bäuche drücken Hilfesuchende runter ins Meer, ins Ertrinken. Wo ist die Liebe? Nur in den Tränen, die unweigerlich beim Lauschen fließen? Wer ist bis hierhin immer noch nicht begriffen hat: „König:in“ ist Musik zur Zeit. Nicht besser, nicht schlechter, nicht dicker, nicht schmaler, sondern anders einzigartig erbaulich. Und schön. So schön, dass man gerne eine Krone basteln möchte, um sie einer Fremden oder einem Fremdem mit offenherzigem Blick aufzusetzen.
Dann kommt „Die Astronautin“, eine Forschungsreisende, die sich auf den Weg zu sich selbst macht. Passt ein persönliches Bekenntnis zur Selbstakzeptanz hinter ein hochrelevantes politisches Lieder-Doppel? Wird aus der Mitmenschlichkeit plötzlich Narzissmus das andere Gift unserer Zeit? Weit gefehlt! Wer der Bridge in diesem archetypischen AnNa R.-Stück lauscht, erkennt die Fortsetzung des Plädoyers fürs Gemeinsame im Arrangement sofort wieder. Die Saat der Liebe säte der Meister der Popsong-Komposition dutzendfach vor etlichen Dekaden. Sie verbindet noch heute ungebrochen, wie AnNa R. mit der Brass-intensiven Burt Bacharach-Huldigung in „Die Astronautin“ offenbart. Hätte es bis hierin nicht schon mindestens sieben Hofknickse vor der „König:in“ gegeben, müsste jetzt die tiefste Verbeugung vor ihr folgen.
Die „König:in“ macht, was sie will. Konventionen interessieren sie nicht. Sie ist ein Freak. Gerne sogar, denn Freaks folgen keinem Gruppenzwang. Sie sind. AnNa R.s Lieder sind auch. Sie sind was sie sind. Liebe um der Liebe willen. Zur Musik, zu den Menschen, zum Anderssein, denn jeder ist anders. Immer und überall. Das Prinzip der Gleichzeitigkeit. Irgendwie beruhigend. Und doch will die Liebe konstant befreit werden von Zwängen. „Augen zu“, das Duett mit der „König:in“ Henning Wehland singt davon ein Lied. Der fein knarzende Boden der Kneipe ist gewienert, die Folk-Band hat sich darauf platziert. Sie spielt so leidenschaftlich, wie die beiden Protagonist:innen hinter verschlossenen Augen sein wollen. Nur Mut! Die große steinerweichende Macht trägt reiche Früchte, wenn man sie lässt.
Am Ende heißt es: „Gute Nacht“. Ein „Lullaby noir“. Schwarz und kalt wie der Tod. Was zeitgemäß pulsierend „Hinterm Mond“ mit dem Loslassen von allzu bequemen Haltegriffen beginnt, mündet im ultimativen Abschied. Ohne Reue. Ohne Schuldgefühle. Dazwischen herrschen „Chaos & Symmetrie“, Energieanzapfen, Hausbau mit Papier, das Vertrauen aufs morgen und eine Stimme, die so viel ist: Scheue Neugierige, rotzige Göre, romantische Weitgereiste, Diva, ausbrechendes Möbelstück einer Ehe, Verwirrte, Verliebte, Verwegene. Der Gesang ist runder, kräftiger, einen Hauch dunkler und viel sinnlicher geworden. AnNa R. singt heute wie eine „König:in“. Einnehmender denn je. Und selbstbestimmter. Dennoch bleibt sie im Teamgeist. Die Billardkugel mit der schwarzen 8 im weißen Feld auf der „König:in“-Hülle sagt: Die beiden Jungs von Gleis 8 waren und sind weiterhin dabei. „König:in“ ist Kontinuum und Neuanfang zugleich. In einer zerbröselnden Popkultur sticht das helle Licht der Platte wie ein Leuchtturmfeuer durch dicht gewordenen Nebel. Die Zeit der popkulturellen Orientierung scheint passe zu sein. AnNa R. macht aus der vermeintlichen Not eine Tugend und ist auf ihrem Album-Einstand, was sie am liebsten ist: sie selbst. Lang lebe die „König:in“!
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Quelle: © Ariola | franel