Matthias Reim ist zweifellos ein großfühlender Mensch. Ein beneidenswert produktiver Zeitgenosse ist er sowieso. Vor bald 35 Jahren ließ der Vollblutmusiker und Songwriter einen Aphorismus von bleibendem Wert vom Stapel: „Verdammt, ich lieb‘ dich“. Liedzeilen, die aus einer Laune heraus entstanden, formte der damals 32 Jahre junge Mann zu einem Mammut-Refrain. Den skandierenden Chorus des Megahits singt seit jeher jede und jeder beständig voller Inbrunst mit, wo immer er ertönt. Heute, über drei Jahrzehnte später, „bekommt man den Reim aus Matthias Reim nicht mehr heraus“, wie der nunmehr 66-Jährige schmunzelnd seinem Bühnen-Alter-Ego attestiert. Warum sollte der Versuch auch unternommen werden!
Die Kluft zwischen dem Privatmenschen und der Bühnenfigur Reim wurde im Verlauf der Zeit zunehmend kleiner. Auf dem neuen Longplayer „Zeppelin“ schöpft der Reim, um im Bild zu bleiben, deutlicher denn je aus Matthias Reim. Diesem Kunststück ging eine klärende Form des Entrümpelns voraus. Um das Leben künftig mit leichterem Gepäck genießen zu können, wurde materieller und emotionaler Ballast kurzerhand zum Recyclinghof gebracht.
Seine 16 neuen „Zeppelin“-Songs präsentiert Reim deswegen so frühlingsfrisch und auf den Punkt gebracht wie ein tatendrängender Newcomer. Einer, der sich gleichzeitig eines enormen Musikmacher- und Lebenserfahrungsschatzes ermächtigen kann. Anders lässt sich die gesteigerte Wahrhaftigkeit in „Zeppelin“ nicht erklären. Reims Rock klingt heute handgemacht-rockiger als je zuvor, die Refrains sind größer geworden und die Balladen balladesker. „Zeppelin“ ist kurzum der beste Reim aller Zeiten. Beispiel gefällig? Gleich zu Beginn des Albums öffnet der augenzwinkernd formulierte Powerpopsong „Der doch nicht“ die Ohren fürs riesige Soundpanorama der Platte. Aus einem Neue-Deutsche-Welle-Keyboard-Akkord erheben sich Strophen, in denen der Neue der Ex mieser Tricks überführt wird. Der Chorus des Songs wiederum streift wohlwollend den Reim-Evergreen schlechthin:
„Glaubst du wirklich, er will dich, er will dich, er will dich so wie ich? Glaubst du wirklich, er liebt dich, er liebt dich, er liebt dich so wie ich?“
Die „Easy Rider“ steigern das Tempo des Eröffnungsstücks wenig später mit melodiegekrönter Aussage: „Wir sind Easy Rider in der Nacht geboren um wild und frei zu sein“
Vom Urvertrauen in „Dieses Herz“ erzählt das gleichnamige Liebeslied. Schwelgerisch deklariert Reim im Verspannung lösenden Uptempo-Groove: Liebe ist stärker als Hass! Nebenbei zitiert der Rockmusik-Fan noch huldigend „Die dunkle Seite des Mondes“, den eingedeutschten Titel eines Blockbuster-Albums von Pink Floyd.
Das gesteigerte Energie-Level seiner Arenen-Konzerte im vergangenen Jahr rettete der Mann mit der unvergleichbaren Stimme während der Aufnahme zu „Ich geb alles“ ins Studio rüber. Flankiert von grandiosem Drum-Sound wächst Reim in der klassischen Rocknummer gesanglich über sich selbst hinaus. Als ob es darum geht, jene Dämonen direkt abzuschütteln, die er im Refrain feierlich loszuwerden gelobt, beschreibt Reim in dem Song seine Ecken und Kanten.
Je näher es der Mitte des „Zeppelin“-Albums entgegen geht, desto eindeutiger vermitteln die Songs, dass Reim 2024 immer vielfältiger und dabei eindeutig besser wird. Die titelgebende Ballade „Zeppelin“ hat in der Reim-Kenner-Auffassung bereits jetzt das Zeug zum Lieblingssong-Kandidaten. Veredelt, tiefgründig und doch ermutigend-luftig, fährt der Held des „Zeppelin“-Songs im Luftschiff von der Gegenwart in die Vergangenheit, um das Heute besser und leichter verstehen zu können.
„Radio“, der zweiten leinwandgroßen Ballade des neuen Albums, ging eine lebensverändernde Erfahrung voraus: Matthias Reims geliebter Vater, verstarb. Plötzlich wurde gemeinsame Ewigkeit Vergangenheit. Was nimmt man mit beim Loslassen von einem Menschen, der nicht nur Vater, sondern auch Kumpel war? Klar, die Erinnerungen trägt man für alle Zeiten im Herzen. Woran jedoch will man hängen, wenn alle Besitztümer des Gegangenen „entsorgt“ werden müssen? Als der Sohn gefragt wurde, was er vom Vater haben will, entschied er sich für dessen Radio. Es spielt nicht nur Melodien von früher. Das „Radio“ vom Senior war die Initialzündung für Reims Musikleidenschaft, die eindeutig anhält.
„Das Gute von Morgen“ knüpft rockig-philosophisch da an, wo „Radio“ aufhört. Reim singt in dem Stück wie Leonard Cohen, anders, aber ähnlich. Seine Worte klingen ermutigend: Wir säen heute das Beet, aus dem das Morgen erwächst.
Das Jetzt ist von Irrungen und Wirrungen geprägt. Niemand ist perfekt. Wir alle haben irgendwann trotz allen Strebens nach tugendhaftem Mist gebaut. Das kraftspendende Lied „Zurück“ malt zu anregenden Folksong-Harmonien aus, wie heilsam Wiedergutmachung ist.
Am Ende des „Zeppelin“-Longplayers gibt es einen Grund zum Feiern. In beherztem Popschlager-Tempo gratuliert Reim herzlich zum „Geburtstag“. Das ausgelassene Stück entlässt folgerichtig aus „Zeppelin“, denn mit diesem Song schließt der unnachahmliche Geschichtenerzähler Reim den Kreislauf des Lebens. Anfang Ende und die viele Liebe zwischendrin zeichnen „Zeppelin“ als echtes Matthias Reim-„Lebens-Werk“ aus. Kein Wunder, dass sich zu seinen langjährigen Fans beständig nachfolgende Junge gesellen. Nie klang seine Musik veredelter, juveniler und mitreißender, lebensbewusster als heute.
Matthias Reim wurde am 26. November 1957 in der hessischen Kleinstadt Korbach als Sohn eines Gymnasialdirektors geboren. Er studierte zunächst Germanistik und Anglistik, begann jedoch zunehmend in Rockbands aktiv zu sein. In den 80er-Jahren komponierte er vorwiegend für Kollegen, bevor ihm 1990 mit „Verdammt, ich lieb‘ dich“ der erste Millionenseller unter eigenem Namen gelang. Er hat rund zwei Dutzend Studioeinspielungen veröffentlicht, etliche davon brachen in Gold- und platingegossen Verkaufsrekorde.
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Quelle: © Sony Music