Langsam wird es Nacht über den Feldern, schwarze Tinte läuft in den glühenden Abendhimmel. Es ist der einzige Moment des Tages, an dem ein wenig Sonne hervorbricht, nur um dann von der Dunkelheit verschluckt zu werden. Ein norddeutscher Sommer, windig und verregnet. Sobald die Sonne untergegangen ist, schalten sich die Laternen mit einem metallischen Klang ein.
Viel Licht braucht es nicht, um die einzige Straße zu beleuchten, die durch das kleine Dorf inmitten der Marschlandschaft führt. Ein paar Häuser, die sich gegen den Wind stemmen, eine Bushaltestelle, aber keine Kneipe, kein Supermarkt, kein Imbiss – Ketelsbüttel, so der Name des Dorfes, ist das Epizentrum des Nichts, umgeben von Meer und Heide.
Aber vielleicht ist es der richtige Ort zum Wunden lecken, nach einer Scheidung. Hier im Nirgendwo, in dem die Großeltern leben und eine zersplitterte Kleinfamilie bei sich aufnehmen. Wo ein Junge durch Wiesen streift, mit einem Ast auf imaginäre Feinde eindrischt und in den salzigen Wind schreit, bis die Lungen brennen. Wo aus dem kleinen Jungen ein Teenager wird, mit allem was dazugehört, wenn man im norddeutschen Niemandsland aufwächst: Abhängen in der einen Bushaltestelle, mit Freunden auf dem Rad zur nächsten Party fahren – eine Stunde auf dem Hinweg, zwei Stunden auf dem Rückweg, wegen der Schlangenlinien. Und immer dabei: Musik.
Denn egal, wie abgelegen dieses Dorf liegt, MTV und VIVA empfängt man auch hier. Zwar kommen diese Giganten der Popkultur langsam in die Jahre, Endlos-Wiederholungen von „Flavor of Love“ und „Jackass“ bestimmen das Tagesprogramm, aber nachts flackern noch Musikvideos über den Bildschirm, bunt und abwechslungsreich. Und so sieht man auch in einem Kinderzimmer in Ketelsbüttel, wie Eminem in eigene Abgründe steigt und mit seinem Dämonen ringt, drei Minuten später versuchen Juli der sperrigen, deutschen Sprache Sanftheit einzuhauchen und nach einer Klingeltonwerbung spielen sich Emo- und Skatepunk-Bands den Frust über die Borniertheit und Langeweile ihrer Mittelklasse-Vorstädte von der Brust.
All diese Lieder begleiten den namenlosen Jugendlichen wie Gespenster, er seziert sie, verinnerlicht sie. Und er fängt an, sie in eigene Musik zu verwandeln, auf einer schrammeligen Akustik-Gitarre, auf der er die Namen seiner Lieblingsbands geschrieben hat, noch mehr Fan als Musiker. Doch er lernt weiter, erst mit Freunden, dann alleine. Ein gecracktes Musikprogramm ersetzt eine Band, der alte Schuppen seines Großvaters ein Studio. Und während seine Altersgenossen auf dem Rad ins nächste Dorf fahren, auf der Suche nach einer Homeparty oder zumindest einer Flasche Wodka auf dem Spielplatz, sitzt er vor einem blau leuchtenden Monitor, Kopfhörer auf den Ohren, bringt sich Sidechain Compression und Quantisierung bei, kritzelt Sätze in einen Block, streicht sie durch, schreibt sie neu. Und wenn seine Freunde zurückkommen, beseelt von der Homeparty (oder einer Flasche Wodka auf dem Spielplatz im Nachbardorf), werfen sie einen Blick in die Fenster des Schuppens, das selbe blaue Leuchten in der pechschwarzen Nacht, ein nickender Kopf, ein Schreibblock voller Hieroglyphen, unendlich müde, aber unendlich fokussiert.
2021.
Aus dem Teenager ist ein junger Mann geworden. Das kleine Dorf hat er hinter sich gelassen, eine kleine Wohnung in Hamburg ist jetzt Studio und Rückzugsort. Die Zweifel, ob er wirklich diesen Weg beschreiten soll, sind Gewissheiten gewichen: Während die anderen gerade Ausbildung und Studium beenden, wird er Musiker. Verwebt die Eindrücke seiner sturmumtosten Jugend, seinen Sinn für genreübergreifende Außenseiter-Erfahrungen in die Musik, die er macht. Und kreiert so einen betörenden, dunklen und samtigen Sound, zwischen zeitgenössischen Rap und verzerrter Gitarre, vereint die Welten, denen er entwachsen ist. Sucht in seinen Texten nach Identität, zwischen vermeintlicher Dorf-Idylle und Großstadt. Lässt Angst und Trauer und Schmerz zu, sucht aber weiter nach Zuversicht, wie an jenen Abenden, in der ein verhangener Himmel aufriss und eine gleißende Sonne durch die Wolken schien.
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Quelle: Sony Music