Erst im September veröffentlichte Viktor Orri Árnason eine Einspielung von Arvo Pärts Spiegel im Spiegel, nun stellt der isländische Komponist, Dirigent und Produzent sein Gemeinschaftsprojekt mit der Sopranistin und bildenden Künstlerin Álfheiður Erla Guðmundsdóttir vor. Ihr Debütalbum Poems erscheint am 10. November 2023 bei Deutsche Grammophon auf CD, Vinyl und digital. In der Auseinandersetzung mit ihrem kulturellen Erbe haben Árnason und Guðmundsdóttir zehn Stücke geschaffen, in denen sie die Lyrik isländischer Dichter:innen aus Vergangenheit und Gegenwart vertonen, darunter auch eigene Texte. Die Single »Rödd« (Stimme) kommt bereits am 29. September heraus, zeitgleich mit einem Performance-Video des Stücks, das im Juli in Árnasons Studio in Reykjavík mit Streichern des Reykjavík Orkestra gefilmt wurde. Es folgen »Ljóssins knörr« (Das Schiff des Lichts) am 20. Oktober und »Líkaminn er þaninn fiðlustrengur« (Der Körper ist eine vibrierende Geigensaite) am Tag der Albumveröffentlichung.
Den Gedanken, isländische Gedichte in einer neuen Aufnahme zu verarbeiten, hatte Árnason bereits im Kopf, als er Guðmundsdóttir und ihrer Kunst der Improvisation begegnete. »Ich war wirklich angetan von dem, was sie machte, und habe sie sofort gefragt, ob wir uns nicht gemeinsam an ein Album setzen wollen«, sagt er. Dann sprachen sie über Lyrik, und wie man sie dem Publikum nahebringen könnte.
Árnason und Guðmundsdóttir ließen sich inspirieren von Ólöf Sigurðardóttir frá Hlöðum (1857-1933), Hulda (1881-1946), Guðfinna Jónsdóttir frá Hömrum (1899-1946), Sigurður Pálsson (1948-2017) und Arndís Lóa Magnúsdóttir (geb. 1994), deren literarische Werke von Fragilität und Einsamkeit, Wandel und Erneuerung, der Schönheit der Natur und der Macht der Worte erzählen. Und sie schrieben selbst je einen Text.
Bei der Aufnahme von Poems entdeckte Guðmundsdóttir ganz neue Möglichkeiten, mit ihrer Stimme zu experimentieren. Anders als auf ihren gewohnten Bühnen von Konzertsaal und Opernhaus, die nach einem raumgreifenden Ton verlangen, zählte hier der intime Ausdruck. »Ich fühlte mich so verletzlich«, sagt die Sopranistin. »Ich habe die Stimme weniger gestützt als in der Oper, ihr Klang wurde luftiger. Ich habe definitiv etwas anderes gemacht! Umso länger wir bei der Arbeit waren, desto mehr gefiel mir dieser Klang.«
»Unsere Zusammenarbeit hatte etwas Spielerisches«, sagt Árnason. »Die spirituelle Verbindung lag im Musizieren selbst, spirituell im modernen Sinn von Achtsamkeit. Wir waren einfach da, präsent im Moment. Eine musikalische Odyssee von einer Note zur nächsten, ohne darüber nachzudenken, wohin sie uns führt. Zuerst haben wir nur nach Dichterinnen gesucht, aber dann begegnete uns zufällig Sigurður Pálsson und wir fanden seine Lyrik außerordentlich schön.«
Er ergänzt: »Wie alle guten Gedichte können auch diese Texte auf unterschiedliche Weise gedeutet werden.« Das Eröffnungsstück – eine Vertonung von Pálssons »Rödd« – lässt sich beispielsweise als Aufforderung verstehen, »die innere Stimme wahrzunehmen, die zu einem spricht. Wir alle haben sie. Sie ist dem Menschen eigen.« Auch jenen war sie eigen, die um Anerkennung ringen mussten, wie die isländischen Dichterinnen des 19. und 20. Jahrhunderts, die hier vertreten sind, oder die zeitgenössische Schriftstellerin Magnúsdóttir, deren künstlerischer Werdegang aufgrund ihrer Behinderung erschwert war.
Ihr Gedicht »Líkaminn er þaninn fiðlustrengur« erschien in ihrem Lyrikband mit Texten über Isolation und Selbstausdruck. »Ich hätte nie damit gerechnet, dass mein Gedicht einmal vertont wird. Ich habe meine Gedichte bisher ja noch nicht einmal laut gelesen«, sagt Magnúsdóttir. »Jetzt zu hören, wie mein Text durch Álfheiðurs wunderbare Stimme lebendig wird, ist einfach großartig.«
Árnason begleitet Guðmundsdóttirs zurückhaltenden, schwebenden Gesang am Klavier. Die Musik ist aus ihren Improvisationen entstanden, die er als »abstrakt, aber auch als einfach und zugänglich« beschreibt. Manchmal greift er zu Geige oder Bratsche, teils im Zusammenspiel mit Streichern aus dem Reykjavík Orkestra und elektronischen Klängen. Minimalistisch ist der Stil, die Stimmung ruhig. Nichts stört die bewusste Reflexion, zu der die Musik die Hörer:innen einlädt.
»Vermutlich können wir uns nicht vorstellen, was jemand wie Guðfinna Jónsdóttir in ihrem frühen Leben aushalten musste«, sagt Árnason. »Aber ich glaube, mein Gedicht ›Vera‹ (Sein), in dem es darum geht, im Hier und Jetzt zu sein, Álfheiðurs seliges ›Blikna‹ (Verwelken) und Arndís’ ›Líkaminn er þaninn fiðlustrengur‹, in dem sie den menschlichen Körper mit einem Musikinstrument vergleicht, sprechen auf ihre Weise über unser heutiges Leben.«
Árnason wird auf Konzertreise gehen. Er tritt auf der Europatournee der Komponistin und Pianistin Hania Rani an zwei Abenden als Solist auf, in der NOSPR-Konzerthalle in Kattowitz (am 7. Oktober) und im Nationalen Musikforum in Breslau (am 8. Oktober). Auf drei weiteren Konzerten der Tournee spielt er außerdem gemeinsam mit Guðmundsdóttir Musik von Poems, im Les Docks in Lausanne (am 10. Oktober), im Salle Pleyel in Paris (am 11. Oktober) und im KKL in Luzern (am 13. Oktober).
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Quelle: © Deutsche Grammophon GmbH